Utilitarismus und Praktische Ethik

Als PDF speichern
Audioversion abspielen

„Sollen wir unsere Sorge auf alle Wesen ausdehnen, die zu Freude und Schmerz fähig sind und deren Empfindungen durch unser Verhalten beeinflusst werden? oder sollen wir uns auf das menschliche Glück beschränken? Die erstere Sichtweise wird von… der utilitaristischen Schule vertreten … es erscheint willkürlich und unvernünftig, von dem so verstandenen Ziel irgendein Vergnügen irgendeines empfindungsfähigen Wesens auszuschließen.”

Henry Sidgwick1

Einführung

Utilitarismus hat wichtige Implikationen dafür, wie wir über ein ethisches Leben nachdenken sollten. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf fünf seiner theoretischen Implikationen. Erstens: Im Gegensatz zu vielen anderen ethischen Theorien betrachtet der Utilitarismus Handlungen und Unterlassungen nicht als moralisch unterschiedlich. Zweitens ist der Utilitarismus ungewöhnlich anspruchsvoll: Er verlangt von uns, mehr zu opfern als viele andere ethische Theorien. Drittens impliziert er, dass wir unparteiisch hinsichtlich der Zwecke sein sollten: dass wir unsere altruistischen Bemühungen dort einsetzen sollten, wo wir den größten positiven Einfluss auf andere haben können. Viertens drängt er uns dazu, das Wohlergehen von Individuen unabhängig davon zu berücksichtigen, in welchem Land sie leben, welcher Spezies sie angehören und zu welchem Zeitpunkt sie existieren. Fünftens befürwortet der Utilitarismus im Allgemeinen „vernünftige“, vom sogenannten gesunden Menschenverstand unterstützte moralische Verbote, obwohl er sich radikal von einer Ethik, die bloß den „gesunden Menschenverstand“ wiedergibt, unterscheidet.

Wie Utilitaristen in der Praxis handeln sollten, erörtern wir in dem Artikel Utilitarismus als Handlungsgrundlage. Kurz gesagt: Die meisten Utilitaristen sollten einen erheblichen Teil ihres Einkommens spenden, um die drängendsten Probleme der Welt zu lösen, ihre Karriere dem Ziel, Gutes zu tun, widmen und ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft, persönlicher Integrität und Ehrlichkeit anstreben.

Gibt es einen Unterschied zwischen dem Zufügen und dem Zulassen von Schaden?

„Ein Mensch kann anderen nicht nur durch seine Handlungen, sondern auch durch seine Untätigkeit Schaden zufügen. In beiden Fällen ist er ihnen gegenüber gerechterweise für den Schaden verantwortlich.”

John Stuart Mill, On Liberty

Viele Nicht-Konsequentialisten sind der Ansicht, dass es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen dem Zufügen von Schaden und dem Zulassen von Schaden gibt, selbst wenn die Folgen einer Handlung oder eines Nichthandelns dieselben sind. Diese Position ist als „Doktrin vom Tun und Zulassen“ bekannt, der zufolge Schäden, die durch Handlungen — also durch Dinge, die wir aktiv tun — verursacht werden, schlimmer sind als Schäden, die durch Unterlassung entstehen. Die Anhänger dieser Doktrin können zum Beispiel behaupten, dass es unter sonst gleichen Bedingungen schlimmer ist, ein Kind zu verletzen, als zu unterlassen, es zu verhindern, dass dasselbe Kind bei einem Unfall verletzt wird.

Natürlich sind die Bedingungen in der Regel nicht gleich. Aus der Sicht von Konsequentialisten und Nicht-Konsequentialisten wäre eine gesellschaftliche Norm, die es Menschen erlaubt, Kindern zu schaden, schlechter als eine, die es Menschen erlaubt, es zu vernachlässigen, zu verhindern, dass Kinder versehentlich geschädigt werden. Das liegt daran, dass die aktive Schädigung von Kindern einen Präzedenzfall schaffen könnte, der andere dazu ermutigt, Kindern noch mehr zu schaden, was insgesamt schlimmere Folgen hätte. Schaden anzurichten kann durchaus instrumentell schlimmer sein als Schaden zuzulassen, selbst wenn die Doktrin vom Tun und Zulassen falsch ist.

Konsequentialisten — einschließlich Utilitaristen — akzeptieren zwar, dass das Zufügen von Schaden in der Regel instrumentell schlechter ist als das Zulassen von Schaden, sie bestreiten jedoch, dass das Zufügen von Schaden an sich schlechter ist als das Zulassen von Schaden. Für Utilitaristen ist nur das Ergebnis, das das Kind erfährt, an sich wichtig. Für das geschädigte Kind ist das Ergebnis dasselbe — ob man selbst den Schaden anrichtet oder jemand anderes und man es nicht verhindert. Aus der Sicht des Kindes ist die Unterscheidung zwischen Handlung und Unterlassung irrelevant: Ob das Leiden des Kindes aus der eigenen vorsätzlichen Handlung oder der eigenen Nachlässigkeit resultiert, es leidet in beiden Fällen gleich.

Ob es einen intrinsischen moralischen Unterschied zwischen Zufügen und Zulassen von Schaden gibt oder nicht, ist von großer Bedeutung. Wie bereits erwähnt, steht die Doktrin vom Tun und Zulassen im Mittelpunkt vieler Meinungsverschiedenheiten zwischen Konsequentialisten und Nicht-Konsequentialisten. Außerdem ist sie für die Entscheidungsfindung in der Praxis relevant. Die Ethikrichtlinien vieler medizinischer Fachgesellschaften erlauben es Ärzten beispielsweise niemals, den Tod eines Patienten aktiv und absichtlich herbeizuführen. Es ist jedoch akzeptabel, wenn Ärzte eine Patientin unter bestimmten Umständen absichtlich sterben lassen, zum Beispiel wenn die Patientin große Schmerzen hat und ihr Leben beenden möchte. Diese Unterscheidung — zwischen einem Arzt, der einen unheilbar kranken Patienten sterben lässt, und einem Arzt, der einer Patientin, die ihr Leben beenden möchte, aktiv hilft — wird aus utilitaristischer Sicht als weniger relevant angesehen. Wenn wir Ärzten erlauben, einen unheilbar kranken Patienten (der sein Leiden beenden möchte) sterben zu lassen, würde ein Utilitarist argumentieren, dass es Ärzten auch erlaubt sein sollte, einer Patientin aktiv zu helfen, ihren Tod mit ihrer Zustimmung herbeizuführen.

Eine fordernde Ethik

Utilitarismus ist eine sehr fordernde ethische Theorie: Utilitarismus besagt, dass man immer dann, wenn man anderen Menschen mehr helfen kann als sich selbst, altruistisch handeln sollte.2 Wenn man zum Beispiel sein Leben opfern könnte, um das Leben mehrerer anderer Menschen zu retten, dann sollte man das laut Utilitarismus unter sonst gleichen Umständen tun.

Auch wenn es nur selten vorkommt, dass es das Beste ist, sein eigenes Leben zu opfern, ist der Utilitarismus in der heutigen Welt immer noch sehr gefragt. Mit einer Spende an eine hochwirksame globale Gesundheitsorganisation kann man zum Beispiel für ein paar tausend Euro das Leben eines Kindes retten.3 Solange der Nutzen, den andere aus solchen Spenden ziehen, größer ist als der, den man selbst erzielen würde, wenn man das Geld für sich selbst behalten würde — und das ist mit Sicherheit der Fall, wenn man ein typischer Bürger eines wohlhabenden Landes ist — sollte man es weggeben. In der Tat sollte man wahrscheinlich den Großteil seines Lebenseinkommens spenden. Laut Utilitarismus ist es nur dann wirklich vertretbar, Geld für sich selbst auszugeben — zum Beispiel für einen Kinobesuch oder den Kauf schöner Kleidung — wenn man der Meinung ist, dass diese Ausgaben mehr Gutes bewirken als jede mögliche Spende. Dies ist eine sehr hohe Messlatte.

Utilitarismus empfiehlt nicht nur sehr großzügiges Spenden, sondern behauptet auch, dass man sich für eine Karriere entscheiden sollte, die anderen am meisten nützt. Das kann gemeinnützige Arbeit sein, die Durchführung wichtiger Forschungsarbeiten,der Einstieg in die Politik oder die Fürsprache für eine wichtige Sache.

Unparteilichkeit hinsichtlich der Zwecke

Die vorherrschende Meinung über altruistisches Handeln ist, dass es eine Frage der persönlichen Präferenz ist, wem wir wie helfen sollten. Nach dieser weit verbreiteten Ansicht kann man je nach persönlichen Neigungen entscheiden, ob man sich auf Bildung, Kunst, bedrohte Tierarten oder ein anderes Anliegen konzentriert.4

Utilitaristen argumentieren jedoch, dass wir den Fokus unseres Helfens nicht in erster Linie aufgrund unserer persönlichen Verbundenheit mit einer sozialen Sache wählen sollten; stattdessen sollten wir unseren Schwerpunkt dort setzen, wo wir den größten positiven Einfluss auf andere haben können. Utilitarismus beinhaltet das, was wir als Unparteilichkeit hinsichtlich der Zwecke bezeichnen können:5

Unparteilichkeit hinsichtlich der Zwecke ist die Ansicht, dass die Wahl des sozialen Anliegens, auf das man sich konzentriert, von der erwarteten Menge an Gutem abhängen sollte, das man innerhalb dieses Anliegens bewirken kann.

Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, nehmen wir an, man könnte an eine von zwei verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen spenden. Die eine stellt Moskitonetze zum Schutz von Kindern vor Malaria bereit, die andere behandelt Krebspatienten. Nehmen wir an, dass man mit seiner Spende an die Organisation, die Moskitonetze verteilt, doppelt so viele Leben retten kann wie mit einer Spende an die Krebs-Wohltätigkeitsorganisation. Ein Familienmitglied ist jedoch an Krebs gestorben, sodass eine persönliche Bindung zu diesem Thema besteht. Sollte man daher an die Krebs-Wohltätigkeitsorganisation spenden?

Eine Utilitaristin würde sagen: nein. Aus utilitaristischer Sicht überwiegt die Bedeutung der Rettung von zwei Leben gegenüber der persönlichen Bindung, die eine Spenderin dazu bringen könnte, dem Leben des Krebskranken den Vorrang zu geben. Laut Utilitarismus sollten wir völlig unparteiisch entscheiden, welches soziale Anliegen wir unterstützen. Diese Entscheidung sollten wir nur von der Frage leiten lassen, wo wir am meisten Gutes tun können.

Wichtig ist: Wir wissen, dass einige Maßnahmen, um Individuen Gutes zu tun, viel mehr bewirken als andere. So sind beispielsweise im Bereich der globalen Gesundheit und Entwicklung einige Maßnahmen mehr als 100-mal so wirksam wie andere.6 Darüber hinaus glauben viele Forscher, dass der Unterschied in der erwarteten Wirkung zwischen verschiedenen Zwecken ebenso groß ist wie die Unterschiede zwischen Maßnahmen innerhalb eines bestimmten Zwecks. Wenn dem so ist, ist die Konzentration auf die allerbesten Zwecke weitaus wirkungsvoller als die Konzentration auf durchschnittliche Zwecke.

Der sich weitende moralische Kreis

Eine entscheidende Frage bei der Entscheidung, welchem Anliegen wir unsere Bemühungen widmen sollten, ist die Frage, welche Individuen wir in unsere moralischen Überlegungen einbeziehen sollten.

Wir erkennen nun an, dass Merkmale wie Ethnie, Geschlecht und sexuelle Orientierung keine Rechtfertigung dafür sind, Menschen zu diskriminieren oder ihr Leiden zu ignorieren. Im Laufe der Zeit hat unsere Gesellschaft unsere moralische Sorge auf immer mehr Gruppen ausgedehnt: ein Trend des moralischen Fortschritts, der oft als sich weitender moralischer Kreis bezeichnet wird.7 Doch wo liegen die Grenzen dieser Entwicklung? Sollte der moralische Kreis alle Menschen umfassen, aber dort aufhören? Sollte er auch auf nichtmenschliche Tiere ausgedehnt werden? Oder sollte er sich letztlich sogar auf Pflanzen und die natürliche Umwelt erstrecken?

Der Utilitarismus gibt eine klare Antwort auf diese Frage: Wir sollten unsere moralische Sorge auf alle empfindungsfähigen Wesen ausdehnen, also auf jedes Individuum, das in der Lage ist, positive oder negative Bewusstseinszustände zu erleben. Dazu gehören Menschen und wahrscheinlich viele nicht-menschliche Tiere, nicht aber Pflanzen oder andere nicht empfindungsfähige Wesen. Diese Sichtweise wird manchmal als Sentiozentrismus bezeichnet, da sie das Empfindungsvermögen als das Merkmal ansieht, das Individuen einen moralischen Status verleiht. Zur Rechtfertigung dieser Sichtweise schreibt Peter Singer:

Die Kapazität, Dinge zu erleiden und zu genießen, ist eine Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt Interessen haben, eine Bedingung, die erfüllt sein muss, bevor wir sinnvoll von Interessen sprechen können. Es wäre unsinnig zu sagen, dass es nicht im Interesse eines Steins sei, von einem Kind auf der Straße getreten zu werden. Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht leiden kann. Nichts, was wir ihm antun können, könnte etwas an seinem Wohlergehen ändern. Eine Maus hingegen hat ein Interesse daran, nicht gequält zu werden, denn Mäuse leiden, wenn sie auf diese Weise behandelt werden…

Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, die Berücksichtigung dieses Leidens zu verweigern. Unabhängig von der Natur des Wesens verlangt der Gleichheitsgrundsatz, dass das Leiden mit dem gleichen Leiden — soweit grobe Vergleiche möglich sind — eines jeden anderen Wesens gleichgesetzt wird. Wenn ein Wesen nicht in der Lage ist, zu leiden oder Freude oder Glück zu empfinden, gibt es nichts, was berücksichtigt werden muss. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit… die einzig vertretbare Grenze für die Rücksichtnahme der Interessen anderer.8

Daher könnte eine Priorität für Utilitaristen darin bestehen, der Gesellschaft dabei zu helfen, ihren moralischen Kreis zu erweitern. Zum Beispiel könnten wir Menschen davon überzeugen, dass sie nicht nur jenen in ihrem eigenen Land helfen sollten, sondern auch denen am anderen Ende der Welt; nicht nur denen ihrer eigenen Spezies, sondern allen empfindungsfähigen Lebewesen; nicht nur gegenwärtig lebenden Menschen, sondern allen Menschen, deren Leben sie beeinflussen können, einschließlich künftiger Generationen.

Kosmopolitismus: den moralischen Kreis geographisch weiter fassen

Dem Utilitarismus zufolge sind die geografische Entfernung und die nationale Zugehörigkeit an sich moralisch nicht relevant. Das bedeutet, dass wir laut Utilitarismus keinen Grund haben, jemanden aufgrund seines Wohnorts, seiner Herkunft oder seiner Nationalität zu diskriminieren. Dies macht den Utilitarismus zu einem Beispiel für moralischen Kosmopolitismus. Die Befürworter des moralischen Kosmopolitismus sind der Ansicht, dass es genauso wichtig ist, ein Leben in einem weit entfernten Land zu retten, wie ein Leben in der Nähe im eigenen Land; alle Leben verdienen die gleiche moralische Berücksichtigung, egal wo sie gelebt werden.

Natürlich kann die geografische Entfernung zwischen sich selbst und dem Begünstigten eine Rolle spielen — es ist oft einfacher, Menschen in der Nähe zu helfen als Menschen in der Ferne. In einer zunehmend globalisierten Welt ist es jedoch viel einfacher geworden, auch denen zu helfen, die am anderen Ende der Welt leben. Und aufgrund der extremen globalen wirtschaftlichen Ungleichheiten kommt eine zusätzliche Einheit an Ressourcen Menschen in den am wenigsten entwickelten Ländern viel mehr zugute als Menschen in wohlhabenden Ländern wie den Vereinigten Staaten oder dem Vereinigten Königreich — möglicherweise 100 bis 1.000-mal mehr.9

Die Auswirkungen des Kosmopolitismus auf ethisches Handeln erörtern wir in dem Artikel Utilitarismus als Handlungsgrundlage.

Anti-Speziesismus: den moralischen Kreis für andere Spezies öffnen

Der Utilitarismus kümmert sich nicht nur um das Wohlergehen von Menschen, sondern auch um das Wohlergehen nichtmenschlicher Tiere. Folglich lehnt der Utilitarismus den Speziesismus ab: die Praxis, einige Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies moralisch weniger zu berücksichtigen als andere oder sie schlechter zu behandeln. Moralische Rücksichtnahme auf Individuen bedeutet schlicht, dass man berücksichtigt, wie sich das eigene Verhalten auf sie auswirkt, sei es durch Handeln oder Unterlassen. Peter Singer beschreibt dies so:

Rassisten verletzen den Gleichheitsgrundsatz, indem sie die Interessen der Angehörigen ihrer eigenen Ethnie stärker gewichten, wenn deren Interessen mit den Interessen einer anderen Ethnie kollidieren. Sexisten verletzen den Gleichheitsgrundsatz, indem sie die Interessen ihres eigenen Geschlechts bevorzugen. In ähnlicher Weise lassen Speziesisten zu, dass die Interessen ihrer eigenen Spezies über die größeren Interessen der Mitglieder anderer Spezies gestellt werden. Das Muster ist in jedem Fall identisch.10

Die Wissenschaft ist sich zunehmend einig, dass viele nicht-menschliche Tiere empfindungsfähig sind,11 wenn auch nicht unbedingt alle in gleichem Maße. Dazu gehören die meisten Wirbeltiere, wie Säugetiere, Vögel und Fische, und möglicherweise auch einige wirbellose Tiere, wie Kraken oder sogar Insekten. Diese Tiere können Freude und Schmerz empfinden. Diese Erfahrungen sind aus einer utilitaristischen Perspektive moralisch relevant.

Die Ablehnung des Speziesismus bedeutet, dass das Wohlergehen aller Individuen moralisch gleichwertig berücksichtigt wird, aber nicht, dass alle Spezies gleich behandelt werden. Die Zugehörigkeit zu einer Spezies ist nicht an sich moralisch relevant, aber Individuen, die verschiedenen Spezies angehören, können sich auf andere Weise unterscheiden, die moralisch relevant sind. Insbesondere ist es wahrscheinlich, dass Individuen verschiedener Spezies nicht die gleiche Fähigkeit zu bewusster Erfahrung haben — beispielsweise aufgrund der unterschiedlichen Anzahl von Neuronen in ihren Gehirnen. Da Utilitaristen der Meinung sind, dass nur die Empfindungsfähigkeit an sich moralisch von Bedeutung ist, ist die utilitaristische Sorge um die Individuen proportional zu ihrer Fähigkeit, bewusste Erfahrungen zu erleben. Die Aussage, dass wir das Wohlergehen eines Fisches und eines Schimpansen gleichermaßen berücksichtigen sollten, ohne zu implizieren, dass sie in gleichem Maße leiden können, ist mit der Ablehnung des Speziesismus vollkommen vereinbar.

Aus utilitaristischer Sicht ist, was intrinsisch zählt, das Wohlergehen des einzelnen empfindungsfähigen Wesens, nicht das Überleben der Spezies oder die Integrität des Ökosystems oder der Natur. Individuen können leiden, während eine „Spezies“, ein „Ökosystem“ oder „die Natur“ nicht leiden kann. Natürlich können das Überleben der Arten und die Unversehrtheit der Ökosysteme und der Natur instrumentell wichtig sein, insofern sie zum Wohlergehen von Individuen beitragen.

Speziesismus ist die Grundlage für die derzeitige Ausbeutung von Milliarden nichtmenschlicher Tiere durch den Menschen. Tiere werden weithin als Ressourcen betrachtet: Sie werden zur Ernährung gezüchtet und geschlachtet, zur Herstellung von Kleidung verwendet oder für ihre Arbeit ausgebeutet. Diese Praktiken führen häufig dazu, dass Tiere extremes Leid erfahren.

Doch nicht alles Tierleid wird vom Menschen verursacht. In der Natur leben viel mehr wilde Tiere als es domestizierte Tiere gibt.12 Im Gegensatz zu der weit verbreiteten romantischen Vorstellung von der Natur leben wilde Tiere im Allgemeinen ein kurzes Leben in einer rauen Umgebung; sie leiden unter Raubtieren, Krankheiten, Parasiten, extremer Hitze oder Kälte, Hunger, Durst und Unterernährung. Vor diesem Hintergrund wäre es falsch, nur das Wohlergehen von domestizierten Tieren zu berücksichtigen, denen der Mensch aktiv Schaden zufügt, während das Wohlergehen von Wildtieren, deren Schädigung der Mensch lediglich zulässt, ignoriert wird.13 Wie bereits erwähnt, ist für Utilitaristen die Unterscheidung zwischen dem Zufügen und dem Zulassen von Schaden irrelevant. Daher sollten wir uns aus utilitaristischer Sicht gleichermaßen um das Wohlergehen von domestizierten und wilden Tieren kümmern. Allerdings wissen wir derzeit wenig darüber, wie wir das Leben von Wildtieren systematisch verbessern können. Im Gegensatz dazu würde eine Verringerung des gesellschaftlichen Konsums von Fleisch aus Massentierhaltung oder eine Verbesserung der Bedingungen in Massentierhaltungsbetrieben einen klaren und enormen Nutzen für die betroffenen Tiere bringen.14

Die Auswirkungen der Ablehnung des Speziesismus auf das ethische Handeln erörtern wir in dem Artikel Utilitarismus als Handlungsgrundlage.

Longtermism: den moralischen Kreis zeitlich weiter fassen

Aus utilitaristischer Sicht sind Menschen auf der anderen Seite des Planeten nicht weniger wichtig als Menschen, die uns geografisch näher sind. In gleicher Weise betrachtet der Utilitarismus das Wohlergehen künftiger Generationen, nur weil sie zeitlich weit entfernt sind, nicht als weniger wichtig als das Wohlergehen der heute Lebenden.

Eine bemerkenswerte Tatsache in der Geschichte der Zivilisation ist, wie früh wir in ihr zu stehen scheinen. Wir haben 5.000 Jahre aufgezeichnete Geschichte hinter uns, aber wie viele Jahre liegen potenziell noch vor uns? Wenn wir nur so lange überleben wie die typische Säugetierart, haben wir noch 200.000 Jahre vor uns. Aber der Mensch ist kein typisches Säugetier. Wenn wir unsere Spezies erhalten können, sind es noch eine Milliarde Jahre, bis die Erde nicht mehr bewohnbar ist.15 Andere Planeten und Sonnensysteme werden noch Billionen von Jahren existieren. Selbst bei der konservativsten dieser Zeitrechnungen haben wir nur einen winzigen Bruchteil der aufgezeichneten Geschichte erlebt. Wäre die Geschichte der Menschheit ein Roman, so stünden wir noch auf der ersten Seite.

In der Zukunft könnte es um ein Vielfaches mehr Personen geben als in der jetzigen Generation. Dies legt nahe, dass man, wenn man Personen im Allgemeinen helfen will, nicht nur der gegenwärtigen Generation helfen sollte, sondern auch dafür sorgen muss, dass die langfristige Zukunft so gut wie möglich verläuft.16 Diese Idee ist als starker Longtermism bekannt:

Starker Longtermism ist die Ansicht, nach der die wichtigste Determinante für den Wert unserer heutigen Handlungen ist, wie sich diese Handlungen auf die sehr langfristige Zukunft auswirken.

Die meisten plausiblen Formen des Utilitarismus17 implizieren den starken Longtermism, wenn wir davon ausgehen, dass einige unserer Handlungen die langfristige Zukunft sinnvoll beeinflussen können und wir abschätzen können, welche Auswirkungen positiv und welche negativ sind. Zum Beispiel gibt es Risiken für das Fortbestehen der Menschheit, unter anderem durch einen Atomkrieg, extreme Klimaveränderungen, menschengemachte Krankheitserreger und künstliche Intelligenz.18 Wenn wir glauben, dass das weitere Überleben der Menschheit einen positiven Wert hat, dann ist die Verringerung des Risikos des Aussterbens der Menschheit eine Möglichkeit, die sehr langfristige Zukunft positiv zu beeinflussen.19 Eine Diskussion des Longtermism würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Um mehr zu erfahren, empfehlen wir die Lektüre dieses wissenschaftlichen Artikels.20

Wir erörtern die Auswirkungen des Longtermism auf ethisches Handeln in dem Artikel Utilitarismus als Handlungsgrundlage.

Respektieren vernünftiger moralischer Normen

Manchmal wird der Utilitarismus dahingehend missverstanden, dass man immer explizit den Erwartungswert jeder möglichen Handlung berechnen und diejenige Handlung wählen sollte, die am höchsten bewertet wird. Tatsächlich empfiehlt der Utilitarismus nicht, dieses „naiv-utilitaristische“ Entscheidungsverfahren anzuwenden.21

Stattdessen legt der Utilitarismus als mehrstufige Theorie moralische Ziele fest — Kriterien für die objektive Beurteilung der moralischen Vorzüge einer Handlung unter Berücksichtigung aller relevanten faktischen Details22 — lässt aber die Frage offen, welche Art von Entscheidungsverfahren wir in der Praxis zu befolgen versuchen sollten. Schließlich ist es eine offene empirische Frage, wie man die vorgegebenen moralischen Ziele tatsächlich am besten erreicht.

Der Utilitarismus impliziert, dass wir dasjenige Entscheidungsverfahren anwenden sollten, das uns (in Erwartung) am besten hilft, das allgemeine Wohlergehen zu fördern. Obwohl wir nicht sicher sein können, welches Entscheidungsverfahren dieses Kriterium erfüllt, können wir einige fundierte Vermutungen anstellen. Wie die Psychologen Stefan Schubert und Lucius Caviola argumentieren, können wir das allgemeine Wohlergehen am besten dadurch fördern, dass wir ehrgeizig nach robust guten Handlungen streben, die anderen effektiv helfen, während wir gleichzeitig die negativen Risiken durch die Adhärenz an gemeinhin akzeptierte Tugenden und Einschränkungen minimieren.

Es ist weithin anerkannt, dass Menschen bei der Berechnung von Nutzen nicht zuverlässig sind,23 insbesondere wenn sie mit allgemein verlässlichen Regeln und Heuristiken in Konflikt geraten (beispielsweise mit dem Verbot, anderen zu schaden). Folglich können wir Berechnungen des Erwartungswerts, bei denen Regelverletzungen angenommen werden, nicht für bare Münze nehmen. Selbst wenn man errechnet hat, dass die Ermordung eines Konkurrenten irgendwie dem höheren Wohl dient, sollten man sehr skeptisch sein, dass dies wahr ist. Denn wenn man nicht wirklich glaubt, dass es für andere (in ähnlicher Lage) insgesamt am besten wäre, das Gleiche zu tun, so müsste man glauben, dass die meisten Berechnungen, die einen Mord gutheißen, tatsächlich schiefgelaufen sind. Wenn man also keine speziellen (symmetriebrechenden) Beweise dafür hat, dass man die besondere, seltene Ausnahme von dieser Regel ist, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass die eigenen mörderischen Berechnungen höchstwahrscheinlich schiefgelaufen sind.24 In Ermangelung besonderer Evidenz sollte man trotz der ursprünglichen gegenteiligen Berechnung also zu dem Schluss kommen, dass ein Regelbruch tatsächlich einen geringeren Erwartungswert hat.

Wir können am sichersten sein, dass unsere Handlungen einen positiven Erwartungswert haben, wenn wir stattdessen versuchen, anderen auf eine Art und Weise zu helfen, die durch gute Evidenz gestützt wird und gleichzeitig das Verlustrisiko minimiert.25 Langfristig sollten wir erwarten, dass ehrlicher, kooperativer Altruismus mehr Gutes bewirkt als rücksichtsloses Intrigieren für das „höhere Wohl“, weil (i) rücksichtslose Intriganten historisch gesehen oft mehr Schaden anrichten als Gutes tun, (ii) Menschen rücksichtslosen Intriganten zu Recht nicht vertrauen und (iii) es in einer komplexen Welt schwierig ist, ohne das Vertrauen und die Kooperation anderer viel zu erreichen. Wenn das stimmt, dann hat ehrlicher kooperativer Altruismus systematisch einen höheren Erwartungswert als rücksichtslose Intrigen und sollte von Utilitaristen bevorzugt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Utilitarismus uns nicht dazu auffordert, ständig den Nutzen zu berechnen und den Ergebnissen solcher Berechnungen blindlings zu folgen. Das wäre vorhersehbar kontraproduktiv, was dem pragmatischen Geist der Theorie zuwiderläuft. Stattdessen empfiehlt der Utilitarismus Entscheidungsverfahren auf der Grundlage ihres Erwartungswerts. Wenn wir uns unsicher sind, sollten wir uns von dem Entscheidungsverfahren leiten lassen, von dem wir am ehesten erwarten können, dass es (im Lichte all dessen, was wir über menschliche Voreingenommenheit und kognitive Einschränkungen wissen) zu besseren Ergebnissen führt. Das bedeutet, dass wir uns an Heuristiken oder allgemein verlässliche Faustregeln halten sollten.

Als sehr grobe erste Annäherung könnte uns ein plausibles utilitaristisches Entscheidungsverfahren zu diesem Ergebnis führen:26

  1. Suche nach allen „niedrig hängenden Früchten“, um anderen effektiv zu helfen und gleichzeitig Schaden zu vermeiden,
  2. vermittle Tugenden für real existierende Utilitaristen (einschließlich des Respekts für vernünftige moralische Normen) und
  3. denke in einem ruhigen Moment darüber nach, wie wir unsere moralischen Anstrengungen besser priorisieren und zuordnen könnten, indem wir beispielsweise Kosten-Nutzen-Analysen von Experten und andere Evidenz einholen, um unser Gesamturteil über den Erwartungswert besser zu untermauern.27

Konklusion

Aus dem Utilitarismus ergeben sich wichtige Implikationen dafür, wie wir über ein ethisches Leben nachdenken sollten.

Die Theorie lehnt einen intrinsischen moralischen Unterschied zwischen Schaden zufügen und zulassen ab. Diese Position trägt zur fordernden Natur des Utilitarismus bei, da sie impliziert, dass wir immer dann, wenn wir uns entscheiden, einer anderen Person nicht zu helfen, an ihrem Elend mitschuldig sind.

Im Sinne des Utilitarismus sollten wir sorgfältig auswählen, welche moralischen Probleme wir mit welchen Mitteln angehen wollen, je nachdem, wo wir am meisten Gutes tun können. Wir sollten unsere moralische Sorge auf alle empfindungsfähigen Wesen ausdehnen, das heißt auf jedes Individuum, das in der Lage ist, Glück oder Leid zu erfahren. Der Utilitarismus fordert uns auf, das Wohlergehen aller Individuen zu berücksichtigen, unabhängig davon, welcher Spezies sie angehören, in welchem Land sie leben und zu welchem Zeitpunkt sie existieren.

Obwohl Utilitaristen versuchen sollten, mit ihrem Leben so viel Gutes wie möglich zu tun, sollten sie dies in der Praxis tun, während sie moralische Tugenden wie Ehrlichkeit, Integrität, Fairness und Gesetzestreue respektieren. Es gibt Gründe dafür, dass wir keine Utilitaristen sehen, die Banken ausrauben, um den Erlös zu spenden: Diese vernünftigen moralischen Verbote tragen zum reibungslosen Funktionieren der Gesellschaft bei. Jede naive Berechnung, nach der ein Verstoß gegen ein solches Verbot das größere Wohl fördern würde, ist fast immer ein Irrtum.

Im nächsten Kapitel werden wichtige konkurrierende Theorien, die sich in der Praxis erheblich mit dem Utilitarismus überschneiden können, erörtert.


Diese Seite zitieren

Chappell, R.Y., Meissner, D. und MacAskill, W. (2023). Utilitarismus und Praktische Ethik. In R.Y. Chappell, D. Meissner und W. MacAskill (Hrsg.), Einführung in den Utilitarismus, <https://www.utilitarismus.net/utilitarismus-und-praktische-ethik>, aus dem Englischen von S. Dalügge, zuletzt aufgerufen am .

Möchtest du die Welt zu einem besseren Ort machen?

Erfahre, wie du Utilitarismus in die Praxis umsetzt:

Utilitarismus als Handlungsgrundlage

Ressourcen und weiterführende Lektüre

Gibt es einen Unterschied zwischen dem Zufügen und dem Zulassen von Schaden?

Der sich weitende moralische Kreis

Kosmopolitismus: den moralischen Kreis geographisch weiter fassen

Anti-Speziesismus: den moralischen Kreis für andere Spezies öffnen

Longtermism: den moralischen Kreis zeitlich weiter fassen

Respektieren vernünftiger moralischer Normen


  1. Sidgwick, H. (1981). The Methods of Ethics. Hackett Publishing. Buch IV, p. 414 ↩︎

  2. Für eine Diskussion davon, wie fordernd Utilitarismus im Rahmen der weltweiten Armutsbekämpfung ist, siehe Singer, P. (2009). The Life You Can Save. New York: Penguin Random House LLC. ↩︎

  3. GiveWell (2019). Your dollar goes further overseas↩︎

  4. Berman, J. Z., Barasch, A., Levine, E. E., & Small, D. A. (2018). Impediments to Effective Altruism: The Role of Subjective Preferences in Charitable Giving. Psychological Science. 29(5): 834–844. ↩︎

  5. Das Argument für Unparteilichkeit hinsichtlich der Zwecke wird vorgebracht in Effective Altruism Foundation (2017). The Benefits of Cause-Neutrality↩︎

  6. Ord, T. (2013). The Moral Imperative Towards Cost-Effectiveness in Global Health. Center for Global Development↩︎

  7. Vgl. Singer, P. (1981). The Expanding Circle: Ethics, Evolution, and Moral Progress. Princeton: Princeton University Press. ↩︎

  8. Singer, P. (2011). Practical Ethics. Cambridge: Cambridge University Press, p. 50 ↩︎

  9. Vgl. MacAskill, W. (2015). Doing Good Better: How Effective Altruism Can Help You Make a Difference. New York: Penguin Random House. Kapitel 1. ↩︎

  10. Singer, P. (2002). Animal Liberation. New York: HarperCollins Publishers, p. 9. In der Tat gibt es psychologische Hinweise darauf, dass Speziesismus mit anderen diskriminierenden Einstellungen wie Rassismus, Sexismus und Homophobie einhergeht: Vgl. Caviola, L; Everett, J. A. C. & Faber, N. S. (2017). The Moral Standing of Animals: Towards a Psychology of Speciesism. Journal of Personality and Social Psychology. 116(6): 1011–1029. ↩︎

  11. Siehe zum Beispiel die Cambridge Declaration on Consciousness von Low, P. et al. (2012) ↩︎

  12. Tomasik, B. (2019). How Many Wild Animals Are There?↩︎

  13. Es gibt eine anhaltende akademische Debatte über die moralische Wichtigkeit des Schutzes von Wildtieren. Siehe zum Beispiel folgende Artikel: Ng, Y. (1995). Towards Welfare Biology: Evolutionary Economics of Animal Consciousness and Suffering. Biology and Philosophy. 10 (3): 255–285. McMahan, J. (2013). The Moral Problem of Predation. In Chignell, A; Cuneo, T. & Halteman, M. (Hrsg.). Philosophy Comes to Dinner: Arguments on the Ethics of Eating. London: Routledge. Moen, O. M. (2016). The Ethics of Wild Animal Suffering. Etikk I Praksis - Nordic Journal of Applied Ethics. 10: 1–14. ↩︎

  14. Für eine weitere Diskussion dieses Themas empfehlen wir dieses Interview mit der Forscherin Persis Eskander: Eskander, P. (2019). Animals in the wild often suffer a great deal. What, if anything, should we do about that?. 80,000 Hours Podcast with Rob Wiblin↩︎

  15. Adams, F. C. (2008). Long-Term Astrophysical Processes. In Bostrom, N. and Cirkovic, M. (Hrsg.) ​Global Catastrophic Risks.​ Oxford: Oxford University Press. ↩︎

  16. Für eine Diskussion dieser Idee und der ihr zugrunde liegenden Annahmen siehe Beckstead, N. (2013). On the Overwhelming Importance of Shaping the Far-Future. PhD Dissertation, Rutgers University. ↩︎

  17. Vgl. Greaves, H. & MacAskill, W. (2019). The Case for Strong Longtermism. Global Priorities Institute. Sektion 4.1. ↩︎

  18. Für eine ausführliche Diskussion über existenzielle Risiken und die moralische Bedeutung der langfristigen Zukunft der Menschheit siehe Ord, T. (2020). The Precipice: Existential Risk and the Future of Humanity. London: Bloomsbury Publishing. ↩︎

  19. Ein klassischer Artikel über die Bedeutung der Verringerung existenzieller Risiken findet sich in Bostrom, N. (2013). Existential Risk Prevention as Global Priority. Global Policy. 4 (1): 15–3. ↩︎

  20. Merke: Professor William MacAskill, Mitautor dieser Website, ist auch Mitautor dieses Artikels. ↩︎

  21. Wie in Kapitel 2 erläutert: „hat unseres Wissens niemand jemals den einstufigen Utilitarismus [d. h. die Verwendung des utilitaristischen Kriteriums als universelles Entscheidungsverfahren] verteidigt, auch nicht die klassischen Utilitaristen. Das bewusste Berechnen der erwarteten Konsequenzen unserer Handlungen ist fehleranfällig und birgt die Gefahr, in Entscheidungslähmung zu verfallen.“ ↩︎

  22. Solche Details könnten einfach in einem hypothetischen Beispiel festgelegt werden. In realen Fällen sollte unsere Unsicherheit über relevante faktische Details im Allgemeinen dazu führen, dass wir bei unseren moralischen Urteilen und Bewertungen ähnlich unsicher sind. ↩︎

  23. Siehe z. B. J.L. Mackie (1985). Rights, Utility, and Universalization. In R.G. Frey (Hrsg.) Utility and Rights. Basil Blackwell. ↩︎

  24. Insbesondere kann die Neigung, zu glauben, dass es im eigenen Fall besondere Gründe gibt, nicht für bare Münze genommen werden, wenn man glaubt, dass die meisten Menschen, die sich in subjektiv ähnlichen Situationen befinden, sich in der Annahme irren, solche besonderen Gründe zu haben. Symmetriebrechende Evidenz ist Evidenz, die die eigene Verlässlichkeit im Vergleich zu anderen mit ähnlichen (aber in deren Fall irrigen) Überzeugungen deutlich macht. Solche symmetriebrechende Evidenz ist sehr schwer zu finden! ↩︎

  25. Das soll nicht heißen, dass wir strikt für die Zuversicht in einen positiven Erwartungswert optimieren sollten: Etwas, das mit Sicherheit einen kaum guten Erwartungswert hat, kann weniger erstrebenswert sein als etwas, das mit ziemlicher Sicherheit einen hohen Erwartungswert hat, selbst wenn ein geringes Risiko besteht, dass man etwas übersehen hat, was bedeuten würde, dass die Aktion in Wirklichkeit einen leicht negativen Erwartungswert hat. Eine solche Ungewissheit könnte „unterm Strich“ prinzipiell immer noch zu einem höheren Erwartungswert führen. Der Punkt ist nur, dass Gründe für Zweifel an einem positiven Ergebnis unserer anfänglichen Erwartungswert-Berechnungen uns vernünftigerweise dazu veranlassen sollten, dieser Option einen niedrigeren (und in einigen Fällen sogar negativen) Erwartungswert zuzuordnen. Und in der Praxis scheint es so zu sein, dass wir oft starke Vorannahmen haben, dass rechtsverletzende Handlungen netto-negativ sind, sodass eine grobe und weitgehend unzuverlässige Berechnung nicht ausreichen sollte, um sie umzustoßen. ↩︎

  26. Diese Behauptungen sind streng genommen nicht in den Utilitarismus als grundlegende Moraltheorie eingebaut. Vielmehr spekulieren wir über die weitere Frage, welches Entscheidungsverfahren unter typischen Umständen den höchsten Erwartungswert hat. (Man beachte, dass die Antwort für verschiedene Individuen unter verschiedenen Umständen prinzipiell unterschiedlich ausfallen kann. Nichts im Utilitarismus verlangt Einheitlichkeit, wenn das nicht das Beste wäre.) ↩︎

  27. Dies könnte (muss aber nicht) die Durchführung einiger grober Berechnungen des Erwartungswerts beinhalten. Selbst dann müssen diese naiven Berechnungen, um den Erwartungswert wirklich zu maximieren, durch Beschränkungen gegen rücksichtslose Intrigen abgemildert werden, da unser vorheriges Urteil besagt, dass letztere höchstwahrscheinlich kontraproduktiv sind. Das heißt, wenn wir für eine Handlung einen etwas höheren expliziten „Erwartungswert“ berechnen als für eine andere, aber die erstere einen ungeheuerlichen Normbruch beinhaltet, sollten wir wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass die letztere (sicherere) Option in der Erwartung tatsächlich besser ist. ↩︎