Studienführer: Peter Singers „Hunger, Wohlstand und Moral“

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Einführung

Peter Singers „Hunger, Wohlstand und Moral“1 (im englischen Original: Famine, Affluence, and Morality) gilt weithin als einer der wichtigsten und einflussreichsten Texte der angewandten Ethik. Dieser Studienführer erklärt Singers zentrales Argument, geht auf mögliche Einwände ein und klärt häufige Missverständnisse.

Das Argument

Singer argumentiert, dass die meisten in wohlhabenden Gesellschaften lebenden Menschen einen schrecklichen moralischen Fehler begehen. Wenn wir weit entferntes Leid sehen — wie etwa die Folgen von globaler Armut, Hungersnöten oder Krankheiten — neigen wir dazu zu denken, dass Helfen moralisch optional ist. Philosophen nennen diese optionale Art der Hilfe „überobligatorisch“. Selbst wenn wir sehr leicht mehr Geld an wirksame Hilfsorganisationen spenden könnten, um zu helfen, denken wir, dass dies „über die Pflicht hinausgehen“ würde. Es wäre zwar großzügig, mehr zu spenden, aber es wird nicht verlangt. Wir gehen davon aus, dass es völlig in Ordnung ist, unser Geld stattdessen für teure Kleidung, Reisen, Unterhaltung oder andere Luxusgüter auszugeben. Singer argumentiert jedoch, dass diese Annahme falsch ist. Stattdessen, so argumentiert er, ist es moralisch sehr falsch, im Überfluss zu leben, während andere sterben.2

Singers Argumentation für diese Schlussfolgerung ist einfach und stützt sich weitgehend auf ein zentrales moralisches Prinzip, das wir Singers Rettungsprinzip nennen werden. Das Argument lässt sich wie folgt zusammenfassen:3

P1. Leiden und Tod durch Mangel an Nahrung, Schutz oder medizinischer Versorgung sind sehr schlecht.

P2. Wir können solches Leiden und solche Todesfälle verhindern, indem wir an wirksame Hilfsorganisationen spenden (anstelle von Konsumausgaben).

P3. Viele unserer Konsumausgaben sind moralisch unbedeutend: Wir könnten auf sie verzichten, ohne dadurch etwas moralisch Bedeutsames zu opfern.

P4. Das Rettungsprinzip: Wenn es in unserer Macht steht, etwas sehr Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas moralisch Bedeutsames zu opfern, sollten wir es aus moralischen Gründen tun.4

Folglich:

C. Wir sollten aus ethischen Gründen an wirksame Hilfsorganisationen spenden, statt moralisch unbedeutende Konsumgüter zu kaufen.

Obwohl Singer ein Utilitarist ist, stützt sich dieses Argument nicht auf den Utilitarismus als Prämisse. P1 - P4 sind allesamt Forderungen, die Nicht-Utilitaristen (und sogar Nicht-Konsequentialisten) akzeptieren könnten.

Dies ist ein wahrlich kraftvolles Argument. Die vier Prämissen erscheinen alle vollkommen plausibel. Die Schlussfolgerung ergibt sich logisch aus diesen Prämissen. Und doch steht die Schlussfolgerung in radikalem Widerspruch zu der Art, wie fast jeder von uns sein Leben lebt. Jedes Mal, wenn wir etwas Unnötiges kaufen, impliziert Singers Argument, dass wir dieses Geld stattdessen an wirksame Hilfsorganisationen spenden sollten. Denkt man darüber nach, wie sich dies auf das eigene Leben auswirkt, könnte sich herausstellen, dass die Mehrzahl der Einkäufe, die man im Alltag tätigt, als ethisch falsch anzusehen sind. Die meisten von uns könnten wahrscheinlich deutlich sparsamer leben, ohne etwas moralisch Bedeutsames zu opfern. Man könnte die Ersparnisse nutzen, um Leiden zu lindern oder sogar mehrere vorzeitige Todesfälle zu verhindern. Nach Singers Argumentation ist es dann genau das, wozu wir moralisch verpflichtet sind. (Man beachte, dass ähnliche Argumente auch für die Berufswahl gelten könnten.5)

Kann eine so radikale Schlussfolgerung wirklich wahr sein? Wahrscheinlich denkt man beim Lesen schnell darüber nach, wie man diese Schlussfolgerung abtun kann. Es reicht jedoch nicht aus, die Schlussfolgerung einfach zurückzuweisen. Da sie logisch aus den Prämissen folgt, muss man zeigen, dass eine (oder mehrere) der Prämissen falsch sind, um sie zurückzuweisen.

Prüfen der Prämissen

Prämisse 1: Schlechtigkeit

Die erste Prämisse besagt, dass Leiden und Tod sehr schlimm sind. Das ist schwer zu leugnen. Jede plausible ethische Theorie — ob Utilitarismus, Deontologie, Tugendethik usw. — wird zustimmen, dass Leiden und Tod unter sonst gleichen Bedingungen schlecht sind,6 insbesondere extremes, unfreiwilliges und nicht kompensiertes Leiden.

Prämisse 2: Vermeidbarkeit

Die zweite Prämisse ist ähnlich sicher: Wir können Leid und Tod verhindern, indem wir an wirksame Hilfsorganisationen spenden. Einige „Hilfsskeptiker“ stehen internationalen Hilfsprogrammen kritisch gegenüber. Dies könnte darauf hindeuten, dass wir schlicht nicht wissen, ob eine bestimmte Hilfsorganisation tatsächlich etwas Gutes tut. Einige wohltätige Maßnahmen erweisen sich bei näherer Betrachtung sogar als kontraproduktiv. Doch während viele Hilfsorganisationen wenig bewirken, leisten die effektivsten Hilfsorganisationen bemerkenswert viel Gutes. Glücklicherweise ist es einfach, wirksame Hilfsorganisationen zu finden, wenn man seriöse Quellen wie die ausführlichen Bewertungen von GiveWell oder Informationen von Effektiv Spenden zu Rate zieht. Selbst prominente Hilfsskeptiker bestreiten nicht, dass die von GiveWell am besten bewerteten Hilfsorganisationen wirklich effektiv sind. Es steht also außer Frage, dass durch gezielte Spenden viel Leid und Tod verhindert werden kann. (Natürlich gilt dieses Argument nicht für all jene, die nicht über die Mittel verfügen, um solche Spenden zu tätigen. Es richtet sich ausschließlich an diejenigen unter uns, die zumindest manchmal unnötige Käufe tätigen.)

Prämisse 3: Geringfügiges Opfer

Die dritte Prämisse besagt, dass wir auf viele unserer Konsumausgaben verzichten könnten, „ohne dabei etwas moralisch Bedeutsames zu opfern“. Kann man dies vernünftigerweise bestreiten? Man könnte darauf bestehen, dass alle Interessen in dem Sinne moralisch bedeutsam sind, dass sie etwas zählen, so dass man immer zumindest irgendeinen Grund hat, jede Konsumausgabe zu tätigen, die einem auch nur das kleinste bisschen zusätzliches Glück bringt. Aber natürlich will Singer dies nicht leugnen. Mit dem Begriff „bedeutend“ will er nicht zwischen Interessen und Nicht-Interessen (die buchstäblich nichts zählen) unterscheiden, sondern zwischen besonders gewichtigen Interessen und relativ trivialen. Und es kann nicht plausiblerweise geleugnet werden, dass einige unserer Konsumausgaben relativ trivial beziehungsweise nicht besonders wichtig für unser Leben sind.

Es ist eine interessante Frage, wie man signifikante Interessen von vergleichsweise trivialen unterscheiden kann. Die beiden Extreme scheinen intuitiv klar genug zu sein: Luxusgüter wie Designerkleidung scheinen ziemlich unwichtig zu sein, während es offensichtlich von echter Bedeutung ist, dem eigenen Kind ein gutes Leben zu ermöglichen. In der Grauzone, in der es unklar ist, ob ein Interesse als zutiefst „moralisch bedeutsam“ eingestuft werden kann, wird es ebenso unklar sein, ob Singers Argument von uns verlangt, dass wir bereit sind, dieses Interesse zu opfern, um schweren Schaden zu verhindern.7 Aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein Argument korrekt und praktisch wichtig sein kann, auch wenn manchmal unklar ist, wie es anzuwenden ist.

Prämisse 4: das Rettungsprinzip nach Singer

Schließlich kommen wir zu Singers Rettungsprinzip: Wenn es in unserer Macht steht, etwas sehr Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas moralisch Bedeutsames zu opfern, sollten wir es aus moralischen Gründen tun. Wenn wir die Schlussfolgerung des Arguments ablehnen wollen, müssen wir diese Prämisse ablehnen. Aber kann man wirklich glauben, dass es moralisch in Ordnung ist, sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie etwas Schreckliches passiert, wenn man es leicht (ohne etwas Wichtiges zu opfern) verhindern könnte?

Einige mögen behaupten, dass unsere einzige Pflicht darin besteht, keinen Schaden anzurichten.8 Nach dieser Auffassung wäre es falsch, die Armen der Welt zu bestehlen und es wäre großzügig, ihnen zu helfen, aber wir wären nicht verpflichtet, in irgendeiner Weise zu helfen — es ist nie falsch, sich einfach um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Diese minimale Auffassung von Moral (die sich auf die Pflicht beschränkt, anderen nicht zu schaden) passt gut zu den gängigen Ansichten über Wohltätigkeit. Sie erweist sich jedoch als inakzeptabel, wenn wir ein breiteres Spektrum von Fällen betrachten, wie Singer mit seinem berühmten Gedankenexperiment vom ertrinkenden Kind zeigt.

Das ertrinkende Kind

Singer schreibt:

Wenn ich an einem flachen Teich vorbeigehe und ein Kind darin ertrinken sehe, sollte ich in den Teich hineinwaten und das Kind herausziehen. Dabei wird meine Kleidung zwar schlammig, aber das ist unbedeutend, während der Tod des Kindes vermutlich eine sehr schlechte Sache wäre.9

In einem Fall wie diesem, in dem man mit Leichtigkeit etwas sehr Schlechtes (wie den Tod eines Kindes) verhindern kann, scheint es klar zu sein, dass es nicht nur moralisch lobenswert, sondern moralisch geboten ist, dies zu tun. Das gilt selbst dann, wenn die Rettung des Kindes mit Kosten für einen selbst verbunden ist, solange diese Kosten im Vergleich zum Wert des Lebens des Kindes unbedeutend sind. Da die Kosten für den Ruin der eigenen Kleidung (selbst eines teuren Anzugs, dessen Ersatz mehrere tausend Euro kostet) im Vergleich zum Leben des Kindes unbedeutend sind, sollte man in den Teich waten, um das Kind zu retten.

Was impliziert die minimale „keinen Schaden anrichten“-Ansicht der Moral bezüglich der richtigen Handlungsweise in diesem Gedankenexperiment? Es ist nicht die Schuld des Passanten, dass das Kind ertrinkt. Der Passant hat es schließlich nicht hineingestoßen. Ginge man vorbei und ließe das Kind ertrinken, würde man ihm keinen zusätzlichen Schaden zufügen — es ginge ihm genauso schlecht, wenn man gar nicht erst da wäre. Die Minimalansicht impliziert also, dass es moralisch in Ordnung wäre, einfach vorbeizugehen (oder sich sogar hinzusetzen und Popcorn zu essen, während man dem Kind beim Ertrinken zusieht). Das erscheint den meisten Menschen jedoch als obszön unmoralisch. Daher versagt die Antwort des Minimalisten auf Singers Rettungsprinzip.

Bei konsequenter Anwendung hat Singers Prinzip radikale Auswirkungen auf die reale Welt. Er schreibt:

Wir alle befinden uns in der Situation der Person, die am flachen Teich vorbei geht: Wir alle können das Leben von Menschen retten, sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen, die andernfalls sterben würden, und wir können dies zu sehr geringen Kosten tun: Die Kosten für ein neues … Hemd oder einen Restaurant- oder Konzertbesuch können für mehr als einen Menschen irgendwo auf der Welt den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.10

Wenn man akzeptiert, dass es moralisch geboten ist, das ertrinkende Kind zu retten, selbst wenn man dafür einen teuren Anzug ruiniert, dann kann die Moral auch verlangen, dass man einen entsprechenden Geldbetrag spendet, um das Leben eines Kindes auf andere Weise zu retten. Und man könnte das Leben eines Kindes retten, indem man einfach ein paar tausend Euro an die von GiveWell bestbewerteten Hilfsorganisationen spendet. (Man könnte auch ein qualitätskorrigiertes Lebensjahr retten, indem man etwa 100 Euro spendet.) Gegeben dass man es nicht in Ordnung findet, ein Kind ertrinken zu lassen, wenn man die Möglichkeit hat, dies zu verhindern, erfordert es die moralische Konsistenz, dass man es ebenfalls ablehnt, Kinder unnötig an Armut oder vermeidbaren Krankheiten sterben zu lassen.

Das Gedankenexperiment mit dem ertrinkenden Kind trägt nicht nur dazu bei, Einwände gegen Singers Rettungsprinzip zu entkräften, sondern verdeutlicht auch, welche unserer Interessen so „unbedeutend“ sind, dass wir aufgefordert werden können, sie zu opfern, um schweren Schaden von anderen abzuwenden. Zum Beispiel könnte eine Person zunächst denken, dass das Tragen von Designerkleidung ein wichtiger Teil ihrer Identität ist, aber wenn man sie fragt, ob sie lieber ein Kind ertrinken sehen würde, als auf diesen teuren Lebensstil zu verzichten, könnte sie ihre Meinung ändern.11

Einwände

Nicht jeder akzeptiert Singers radikale Schlussfolgerung über unsere moralische Verpflichtung, für Bedürftige zu spenden. Dennoch ist Singers Schlussfolgerung schwer zu vermeiden, da die Standardeinwände nicht mehr plausibel erscheinen, wenn sie auf entsprechende Variationen des ertrinkendes Kind-Falls angewandt werden.12 Zum Beispiel:

(1) Man mag vielleicht glauben, dass unsicher ist, wie sehr Spenden helfen. Würde das die moralische Verpflichtung zu spenden aufheben? Nehmen wir an, man ist ebenso unsicher, ob das Kind im Teich wirklich ertrinkt (vielleicht spielt es ja nur ein Spiel). Auch dann rechtfertigt die bloße Ungewissheit nicht, nichts zu tun. Solange die Wahrscheinlichkeit, dass zu handeln helfen würde, hoch genug ist (im Vergleich zu den Kosten oder den Risiken, die mit dem Versuch der Hilfeleistung verbunden sind), muss man vielleicht trotzdem eingreifen und Hilfe anbieten, nur für den Fall der Fälle. Ebenso rechtfertigt die Ungewissheit über die Auswirkungen von Spenden nicht, dass man das Geld für sich behält, solange der Erwartungswert von Spenden (im Verhältnis zu den Kosten) ausreichend hoch ist.

(2) Was wäre, wenn andere, wohlhabendere Menschen stattdessen mehr spenden könnten? Sicherlich haben diese eine noch größere moralische Verpflichtung zu spenden, da dies für sie ein geringeres Opfer darstellt. Aber nehmen wir an, dass andere Menschen um den Teich herumstehen und dem Kind beim Ertrinken zusehen, aber keine Hilfe leisten. Diese anderen Menschen sollten helfen, so dass die Hilfe des weniger Wohlhabenden im Idealfall nicht erforderlich wäre. Da diese anderen Menschen aber nicht helfen und Hilfe notwendig ist, wäre es trotzdem falsch, nichts zu tun und das Kind ertrinken zu lassen. Ebenso wäre es falsch, das Leben anderer nicht zu retten, indem man spendet, auch wenn es wohlhabendere Menschen gibt, die helfen könnten, dies aber nicht tun. (Der Zuschauereffekt legt nahe, dass das Warten auf die Hilfe anderer leicht dazu führen könnte, dass überhaupt niemand hilft.)

(3) Was ist mit der geografischen Nähe als Faktor? Macht es einen moralischen Unterschied, dass das ertrinkende Kind direkt vor einem steht, während die Empfänger von Spenden weit weg sind? Man stelle sich vor, der Teich mit dem ertrinkenden Kind befände sich in Wirklichkeit auch weit weg, beispielsweise in einem anderen Land. Man könnte das Leben des Kindes retten, indem man einfach einen Knopf drückt. Sicherlich wäre man verpflichtet, den Knopf zu drücken, selbst wenn man dafür Geld bezahlen müsste. Was moralisch zählt, ist die Fähigkeit, den Tod des Kindes mit geringen Kosten für einen selbst zu verhindern. Man sollte also helfen — unabhängig davon, wie weit das Kind entfernt ist. Viele Moraltheorien (einschließlich des Utilitarismus) bestreiten ausdrücklich, dass geografische Nähe inhärent moralisch relevant ist.13

(4) Oder vielleicht glaubt man, dass es ausreicht, seinen „gerechten Anteil“ zu leisten: nur so viel zu geben, wie nötig wäre, wenn alle anderen das Gleiche tun würden (vielleicht 5 % des eigenen Einkommens). Aber nehmen wir an, dass man, nachdem man ein Kind vor dem Ertrinken gerettet hat, drei weitere ertrinkende Kinder entdeckt. Zwei Umstehende sehen einfach nur zu, wie die Kinder ertrinken, wobei man erleichtert ist, dass zumindest ein anderer Erwachsener auf dem Weg ist, zwei der verbleibenden drei Kinder zu retten. Wäre es in Ordnung, dem letzten Kind beim Ertrinken zuzusehen, mit der Begründung, man habe bereits seinen gerechten „Anteil“ (die Rettung eines von vier Kindern) geleistet, der ausgereicht hätte, wenn alle das Gleiche getan hätten? Oder sollte man den Anteil leisten, der erforderlich ist, um tatsächlich alle Kinder zu retten, wenn man bedenkt, was andere tun und was nicht?

Es ist ungerecht, wenn einige ihren Beitrag nicht leisten. Es ist ungerecht, von uns zu verlangen, mehr zu tun, als unser idealer Anteil gewesen wäre. Aber es wäre noch ungerechter gegenüber dem Kind, es einfach ertrinken zu lassen. Sein Leben zu verlieren, wäre eine weitaus größere Belastung als die zusätzlichen Kosten, die uns entstehen, wenn wir mehr helfen. Obwohl also eine gewisse Ungerechtigkeit unvermeidlich ist, wenn einige nicht ihren Teil beitragen, sollte uns das Bestreben, die Ungerechtigkeit zu minimieren, dennoch dazu veranlassen, mehr zu tun, wenn dies nötig ist.

Keine dieser Antworten scheint erfolgreich zu sein, wenn es darum geht, einen moralisch wichtigen Unterschied zwischen dem Gedankenexperiment mit dem ertrinkenden Kind und wohltätigen Spenden festzustellen. Erwägungen zur Auffälligkeit, Wiederholbarkeit oder Dringlichkeit könnten sich aber als wichtiger erweisen. Wir gehen in den nächsten drei Abschnitten auf diese Aspekte ein.

Auffälligkeit

Obwohl die geografische Entfernung an sich keinen moralischen Unterschied zu machen scheint, kann sie für uns einen psychologischen Unterschied machen, indem sie die Auffälligkeit der verschiedenen Bedürfnisse, um die es geht, beeinflusst. Das sichtbare Leiden eines Kindes direkt vor unseren Augen hat eine ganz andere emotionale Wirkung als das rein abstrakte Wissen um ein weit entferntes Leiden. Und dieser Unterschied in der emotionalen Wirkung erklärt plausibel, warum die meisten von uns so viel stärker motiviert wären, das ertrinkende Kind zu retten, als entferntes Leid durch Spenden zu lindern. Was aber ist die moralische Bedeutung dieses Unterschieds in der psychologischen Sensibilität?

Es ist plausibel, dass eine höhere Aufmerksamkeit dazu beitragen kann, uns auf echte Gründe für unser Handeln aufmerksam zu machen, die ohnehin vorhanden sind, die wir aber sonst fälschlicherweise vernachlässigen würden. Schließlich ist es nicht so, dass ein leidendes Kind plötzlich objektiv wichtiger wird, sobald es in unser Blickfeld gerät. Aber wir werden uns seiner gewiss bewusster (und wie lebenswichtig es ist, ihm zu helfen). Wenn das stimmt, gibt es offenbar genauso viele moralische Gründe, denjenigen in Not zu helfen, die weit weg sind; wir neigen nur dazu, dies nicht so sehr zu bemerken, und machen daher (verständlicherweise) den moralischen Fehler, weniger zu tun als objektiv angezeigt, um ihnen zu helfen.14

Nach dieser Analyse wirkt sich der Unterschied in der Auffälligkeit nicht auf die Stärke unserer moralischen Gründe aus — es ist genauso wichtig, ein weit entferntes Kind zu retten, wie eines, das direkt vor unseren Augen ist. Aber es macht einen wichtigen Unterschied, wie wir die Unterlassung einer Handlung bewerten sollten. Intuitiv wäre es moralisch ungeheuerlich, das Kind nicht vor dem Ertrinken zu retten, während eine unterlassene Spende kein so schlechtes Licht auf einen wirft, auch wenn sie ein schwerer moralischer Fehler ist. Wir können diesen Unterschied mit der Beschaffenheit der eigenen Bereitschaft erklären. Man macht sich in dem Maße schuldig, in dem man aus böswilligen Motiven oder in einer Weise handelt, die einen ungeheuerlichen Mangel an Rücksichtnahme auf andere offenbart. Die Vernachlässigung eines auffälligeren Leidens offenbart einen größeren Mangel an altruistischer Fürsorge, selbst wenn man das Ausmaß des Leidens in beiden Fällen konstant hält. Es ist also tadelnswerter. Chappell & Yetter-Chappell drücken es so aus: „Ein Kind, das vor unseren Augen ertrinkt, schockiert uns, befördert uns so aus unserer Selbstgefälligkeit heraus und aktiviert unsere altruistische Sorge, wohingegen das ständige Leiden der Armen in der Welt leichter zu ignorieren ist, was bedeutet, dass Untätigkeit nicht notwendigerweise einen ungeheuerlichen Mangel an Besorgnis impliziert.“15

Wir können also der Intuition Rechnung tragen, dass die Unterlassung von Spenden an wirksame Hilfsorganisationen nicht so tadelnswert ist wie einem Kind beim Ertrinken zuzusehen (da nur letzteres einen extremen Mangel an altruistischer Anteilnahme offenbart), ohne dass dies ein Grund wäre, zu leugnen, dass Hilfe in beiden Fällen gleichermaßen moralisch wichtig sein kann.

Wiederholbarkeit

Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den beiden Fällen besteht darin, dass ertrinkende Kinder sehr selten vorkommen, während die Bedürfnisse der Armen in der Welt ständig und unablässig sind. Die Bedeutung dieser Tatsache liegt darin, dass ein Prinzip, das darauf abzielt, denjenigen zu helfen, die geografisch nah sind und direkte Hilfe benötigen, sich nicht als besonders kostspielig erweisen dürfte. Aber ein Prinzip der Hilfe für alle Menschen in der Welt, die dringend Hilfe benötigen, könnte schnell den gesamten Lebensinhalt einer Person darstellen. Und wenn wir einen solchen Fall betrachten, erscheint es vielleicht gar nicht mehr so falsch, zumindest manchmal eine Pause einzulegen und dabei ein Kind ertrinken zu lassen.16

Natürlich wäre es, um langfristig möglichst viele Leben zu retten, wahrscheinlich optimal, strategische Pausen zur Selbstfürsorge einzulegen. Zumindest muss man essen und schlafen. Langfristig könnte man aber auch mehr Leben retten, wenn man darauf achtet, ein Burnout zu vermeiden, indem man zusätzliche Pausen einlegt, um Zeit mit Freunden zu verbringen und stressreduzierenden Hobbys nachzugehen. Wenn dies der Fall ist, sind solche strategischen Pausen nach Singers Prinzipien moralisch gerechtfertigt. (Es ist keine Tugend, in seinem Altruismus kontraproduktiv selbstaufopfernd zu sein.) Dies ist also noch kein Gegenbeispiel zu Singers Ansicht.

Dieser optimale Weg ist jedoch immer noch sehr fordernd, da er mit erheblichen persönlichen Opfern verbunden ist. Man stelle sich vor, man müsste die Familienplanung aufgeben und die Zeit, die man mit Freunden und Hobbys verbringt, auf das zur Aufrechterhaltung der geistigen Gesundheit und Produktivität erforderliche Minimum reduzieren, um möglichst viele Leben zu retten. Das ist eine große Forderung, die den Verlust vieler moralisch bedeutsamer Güter für das eigene Leben bedeutet. Wenn Singers Prinzip von uns verlangen würde, diesen optimalen Weg einzuschlagen, wäre es vielleicht doch nicht so plausibel.

Aber verlangt es dies? Im Gegensatz zum Maximierungs-Utilitarismus verlangt P4 nur, dass wir Dinge aufgeben, die moralisch nicht bedeutsam sind. Da die oben genannten Opfer eindeutig moralisch bedeutsam sind, scheint es, dass sie von der Liste der möglichen Forderungen von P4 ausgeschlossen wären.17

Eine Schwierigkeit besteht darin, dass nicht sofort klar ist, wie das Rettungsprinzip auf Fälle von wiederholten Handlungen anzuwenden ist. Man bedenke: Eine einzige Sekunde des eigenen Lebens aufzugeben, mag trivial erscheinen. Aber wenn man es oft genug wiederholt, würde man schließlich sein ganzes Leben aufgeben, was sicherlich signifikant ist. Daraus ergibt sich, dass die wiederholte Erbringung eines unbedeutenden Opfers sich zu einem äußerst bedeutenden Opfer summieren kann. Um das Rettungsprinzip sinnvoll anzuwenden, reicht es also nicht aus, zu fragen, ob das unmittelbare Opfer für sich genommen moralisch bedeutsam ist. Wir müssen weiter fragen, ob es Teil eines Verhaltensmusters ist, das sich im Kontext zu einem moralisch bedeutsamen Opfer summiert. Auf diese Weise interpretiert, scheint Singers Rettungsprinzip einen weiten Spielraum zuzulassen, um viel Zeit und Ressourcen für die Verfolgung persönlicher Projekte zu reservieren, die uns am wichtigsten sind.18

Dennoch stellt die Schlussfolgerung von Singers Argument eine beachtliche Revision der moralischen Ansichten vieler Menschen dar. Selbst wenn wir den größten Teil unserer Freizeit und unserer Ressourcen für persönliche Projekte reservieren, sind wir immer noch verpflichtet, viel mehr für andere zu tun, als fast alle von uns tatsächlich tun. Selbst wenn wir eine teure (oder zeitintensive) Freizeitbeschäftigung nicht völlig aufgeben müssen, können wir moralisch verpflichtet sein, uns einzuschränken — wenn wir dadurch (vielleicht über mehrere Jahre hinweg) viele Leben retten könnten, ohne dass unser eigenes Wohlergehen nennenswert darunter leidet. Es ist plausibel, dass viele Hobbys einen abnehmenden Grenznutzen aufweisen: Je mehr Zeit und Geld wir in sie investieren, desto geringer ist der zusätzliche Nutzen, den wir aus weiteren Investitionen ziehen. In solchen Fällen können wir unsere persönlichen Investitionen beispielsweise um die Hälfte reduzieren und trotzdem den größten Teil des Wohlergehens, das wir durch das Hobby gewinnen, beibehalten. Und natürlich geben viele von uns auch Zeit und Geld für völlig frivole Dinge aus, die, wenn wir darüber nachdenken, gar nicht wesentlich zu unserem Leben beitragen. Wenn wir sorgfältig und ehrlich darüber nachdenken, würden die meisten von uns wahrscheinlich erhebliche Möglichkeiten finden, mehr für andere zu tun, ohne etwas wirklich Wichtiges opfern zu müssen. Wenn Singers Rettungsprinzip richtig ist — und das scheint schwer zu bestreiten zu sein — dann sollten wir diese Möglichkeiten tatsächlich nutzen.

Notfälle

Die letzte große Herausforderung für Singers Argument ergibt sich aus der Vorstellung, dass in Notfällen besondere ethische Normen gelten, die nicht verallgemeinert werden können. Das Szenario des ertrinkenden Kindes ist ein paradigmatischer Notfall. Vielleicht könnte man sich also dem gesunden Menschenverstand wieder annähern, indem man eine Minimalansicht unserer alltäglichen Pflichten mit anspruchsvollen positiven Pflichten zur Hilfeleistung in Notfällen kombiniert?

Die Schwierigkeit bei dieser Sichtweise besteht darin, sie mit einer prinzipiellen Grundlage zu versehen. Warum sollten Todesfälle in Notfällen als wichtiger eingestuft werden als gleichermaßen vermeidbare Todesfälle aus anderen Ursachen?

Sterri und Moen schlagen vor, dies im Sinne eines „informelle Versicherung-Modells“ zu erklären.19 Ihr Grundgedanke ist, dass die Notfallethik als eine gegenseitig vorteilhafte Vereinbarung aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft verstanden werden kann, sich gegenseitig gegen seltene, unerwartete Risiken eines schweren Schadens zu versichern. Das heißt, wir verpflichten uns, anderen in Notsituationen zu helfen, in der Annahme, dass sie dasselbe für uns tun würden. Da Notfälle selten sind, kann man sich bequemerweise an einem solchen System beteiligen, ohne zu erwarten, dass man von allen Nöten der Welt ausgeblutet wird. Und da Notsituationen jeden treffen können, liegt es im aufgeklärten Eigeninteresse, dies zu tun. Auf diese Weise sind wir alle besser dran, wenn wir uns gegenseitig informell gegen Katastrophen versichern, als wenn wir alle auf uns selbst gestellt sind.

Diese Argumentation stößt auf zwei erhebliche Probleme, die allen Bemühungen, Ethik auf aufgeklärtem Eigeninteresse zu gründen, gemein sind. Erstens schließt die zugrundeliegende Logik des gegenseitigen Nutzens nicht nur die Armen der Welt von der moralischen Gemeinschaft aus, sondern auch andere (einschließlich Kleinkinder, nichtmenschliche Tiere, künftige Generationen und Schwerbehinderte), die nicht in der Lage sind, eine Gegenleistung zu erbringen. Dennoch sollte man beispielsweise einen ertrinkenden Querschnittsgelähmten retten, auch wenn er das nicht erwidern könnte.

Das zweite Problem besteht darin, dass das informelle Versicherung-Modell zwar das richtige Ergebnis erzielt (nämlich dass man helfen muss), dies aber aus den falschen Gründen tut. Es impliziert, dass man helfen sollte, um seine Rolle in einem kooperativen System zum gegenseitigen Nutzen zu spielen, was nicht im Entferntesten der richtige Grund zu sein scheint, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten.

Man stelle sich vor, die Logik des informelle Versicherung-Modells auf eine Gesellschaft mit wasserscheuen Robotern auszudehnen, die nur Büroklammern sammeln wollen, diese aber gelegentlich in Pfützen fallen lassen. Um uns die Hilfe der Roboter zu sichern, die uns davor bewahren, mit den Füßen in Eisenbahnschienen stecken zu bleiben (oder in anderen nicht wasserbezogenen Notfällen), könnten wir uns erkenntlich zeigen, indem wir ihre verlorenen Büroklammern aus Pfützen bergen. Wäre die informelle Versicherungsrechnung der Notfallethik korrekt, dann wäre der moralische Grund, ein ertrinkendes Kind zu retten, von genau derselben Art wie der Grund, in dem hypothetischen Szenario eine Büroklammer aus einer Pfütze zu „retten“. Aber das ist eindeutig falsch. Wir haben moralische Gründe, Leben zu retten und großes Leid um der betroffenen Personen willen abzuwenden. Diese moralischen Gründe unterscheiden sich von (und sind wichtiger als) unsere Gründe, an Systemen mit gegenseitigem Nutzen teilzunehmen.

Konklusion

Singer stellt eine logische Spannung in unserem gewöhnlichen moralischen Denken fest. Wir neigen dazu, nicht viel über unsere Möglichkeit nachzudenken, großes Leid zu verhindern (und sogar Leben zu retten). Selbst wenn wir auf diese Tatsache aufmerksam gemacht werden, neigen wir zu der Annahme, dass es für uns moralisch in Ordnung ist, nicht oder nur sehr wenig zu tun. Helfen wäre großzügig, denken wir, nicht aber erforderlich.

Singers Rettungsprinzip scheint jedoch unbestreitbar zu sein: Wenn wir etwas sehr Schlechtes leicht verhindern können — das heißt, ohne etwas moralisch Bedeutsames aufzugeben — dann sollten wir es auf jeden Fall tun. Und das Szenario des ertrinkenden Kindes bestätigt diesen Grundsatz: Wir würden es nicht für in Ordnung halten, einem Kind beim Ertrinken zuzusehen, wenn man es leicht und ohne Risiko für sich selbst retten könnte. Unterschiede in der Auffälligkeit können erklären, warum es uns leichter fällt, weiter entferntes Leid zu ignorieren; aber die Überlegung scheint auch darauf hinzudeuten, dass wir moralisch falsch liegen, wenn wir dies tun.

Die Berücksichtigung der Wiederholbarkeit des Helfens bedeutet, dass wir unsere allgemeinen Reaktionsmuster berücksichtigen müssen: Opfer, die für sich genommen klein sind, können sich zu extremen Opfern summieren, die mehr sind, als Singers Prinzip verlangen würde. Aber selbst wenn wir dies berücksichtigen, gibt es wahrscheinlich viele Veränderungen in unserem Leben, die wir vornehmen können, um anderen mehr zu helfen, ohne dass unser eigenes Wohlergehen dadurch wesentlich beeinträchtigt wird. Wenn Singer Recht hat, sind wir moralisch verpflichtet, diese Veränderungen vorzunehmen. Das ist nicht weniger wichtig als die Rettung eines Kindes, das vor unseren Augen ertrinkt.

Diskussionsfragen

Essay-Tipps

Allgemeinen Erwartungen an eine gute Philosophiearbeit werden von den Dozenten der Kurse, die Leserinnen und Leser dieses Studienführers besuchen, kommuniziert worden sein. Weitere hilfreiche allgemeine Richtlinien sind online zu finden. Wenn man über Singers „Famine, Affluence, and Morality“ schreibt, sollte man darauf achten, die folgenden allgemeinen Fallstricke zu vermeiden:

Viel Erfolg! Und immer bedenken: Quellen müssen zitiert werden.

Diese Seite zitieren

Chappell, R.Y. und Meissner, D. (2023). Studienführer: Peter Singers „Hunger, Wohlstand und Moral“. In R.Y. Chappell, D. Meissner und W. MacAskill (Hrsg.), Einführung in den Utilitarismus, <https://www.utilitarismus.net/peter-singer-hunger-wohlstand-und-moral>, aus dem Englischen von S. Dalügge, zuletzt aufgerufen am .

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Ressourcen und weiterführende Lektüre


  1. Singer, P. (1972). Famine, Affluence, and Morality. Philosophy and Public Affairs 1 (3): 229-243. ↩︎

  2. Siehe auch Unger, P. (1996). Living High and Letting Die: Our Illusion of Innocence. Oxford University Press. ↩︎

  3. P1 und P4 sind (mit geringfügigen Änderungen zur Verdeutlichung) aus p. 231 des Textes zitiert. P2, P3 und C sind von uns um die konkreten Folgen für den täglichen Konsum erweitert und sonst inhaltlich identisch zur Originalformulierung. ↩︎

  4. Singer befürwortet eine strengere Version des Rettungsprinzips, bei der wir verpflichtet sind, sogar einige wirklich moralisch bedeutsame Dinge zu opfern, solange sie nicht vergleichbar bedeutsam sind wie die Schäden, die dadurch verhindert werden. Wir konzentrieren uns hier auf die weniger anspruchsvolle Version des Rettungsprinzips, da sie (wie Singer anmerkt) für praktische Zwecke ausreicht und schwieriger abzustreiten ist. Aber auch die stärkere Version ist plausibel und wird vom Utilitarismus impliziert (während sie auch mit anderen Moraltheorien vereinbar ist). ↩︎

  5. Die karriereorientierte Version von Singers Argument könnte wie folgt aussehen (wobei P1 unverändert bleibt): P2*: Wir können Leid und Tod verhindern, indem wir in einem Beruf arbeiten, in dem wir etwas Positives bewirken, anstatt unsere Zeit mit einer Karriere zu verbringen, die anderen nicht hilft. P3*: Wir können in einem sinnvollen Beruf arbeiten, ohne dass wir dafür erhebliche nicht kompensierte Opfer bringen müssen. P4*: Wenn es in unserer Macht steht, etwas sehr Schlimmes zu verhindern, ohne dass wir dafür ein großes unkompensiertes Opfer bringen müssen, sollten wir es aus moralischen Gründen tun. Deshalb: C*: Wir sollten aus moralischen Gründen lieber in einem Beruf arbeiten, in dem wir etwas Positives bewirken, als unsere Zeit mit einer Karriere zu verbringen, die anderen nicht hilft. Man beachte, dass P3 und P4 im Sinne von erheblichen unkompensierten Opfern formuliert sind. Die Berufswahl ist nämlich eine wichtige Lebensentscheidung, die wahrscheinlich mit erheblichen Kompromissen verbunden ist. Wenn man darauf verzichtet zum Beispiel Künstler zu werden, kann dieser Verlust moralisch bedeutsam sein, selbst wenn man mit einer anderen Karriere insgesamt glücklicher wäre. Wenn man Vorteile erhält, die dem entsprechen, was man geopfert hat, können wir sagen, dass ein Opfer kompensiert wurde und es einen daher alles in allem nicht viel gekostet hat. ↩︎

  6. Jemand, der verzweifelt versucht, Singers Argument zu entgehen, könnte versuchen, die erste Prämisse zu widerlegen, indem er behauptet, dass die Überbevölkerung der Erde ein solches Problem ist, dass wir gar nicht versuchen sollten, Leben zu retten (weil gerettete Leben zur Überbevölkerung beitragen und damit das allgemeine Leiden vergrößern). Es gibt jedoch eine Reihe von Gründen, warum dies ein großer Irrtum ist. Erstens ist diese Behauptung ein Mythos: Empirisch gesehen führt die Rettung von Leben in armen Ländern nicht zu Überbevölkerung. Siehe: Melinda Gates (2014). Saving Lives Does Not Lead to Overpopulation. The Breakthrough Institute; Hans Rosling. Will saving poor children lead to overpopulation? Gapminder Foundation. Zweitens: Jemand, der an diese Behauptung wirklich glaubt, müsste auch für die Schließung von Krankenhäusern, die Freilassung von Serienmördern usw. eintreten. Nur wenige wären bereit, konsequent die Ansicht zu vertreten, dass es keinen Sinn hat, unschuldige Leben zu retten. Menschen unnötig sterben zu lassen, scheint eine grausame Art zu sein, der Überbevölkerung entgegenzuwirken. Drittens gibt es offensichtlich bessere Alternativen, wie etwa die Stärkung der Rolle der Frau in einer Weise, die die Geburtenrate vorhersehbar senkt. Beispiele hierfür sind weltweite Hilfsorganisationen für Familienplanung oder die Bildung von Mädchen. Siehe Singer, P. (1972). Famine, Affluence, and Morality. Philosophy and Public Affairs, 1(3): 229-243, p. 240. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es zunehmend umstritten ist, ob wir uns mehr Sorgen um die Überbevölkerung oder die Unterbevölkerung machen sollten. Außerdem berührt keine dieser Sorgen die Bedeutung der Verringerung von Leid, die eher die Qualität als die Quantität des Lebens erhöht. ↩︎

  7. Wie wir weiter unten sehen werden, könnte das Szenario des ertrinkenden Kindes jedoch dazu beitragen, die Grenzen moralischer Anforderungen an uns in diesem Bereich zu erhellen. ↩︎

  8. Oder, noch minimalistischer, einfach die Rechte anderer nicht zu verletzen. Philosophen bezeichnen dies als negative Pflicht — die Pflicht, eine bestimmte Handlung nicht vorzunehmen — im Gegensatz zu positiven Pflichten, nach denen bestimmte Handlungen vorzunehmen sind. ↩︎

  9. Singer, P. (1972). Famine, Affluence, and Morality. Philosophy and Public Affairs, 1(3): 229–243, p. 231. ↩︎

  10. Singer, P. (1997). The Drowning Child and the Expanding Circle. New Internationalist. (archiviert↩︎

  11. Natürlich ist die relevante Frage nicht die psychologische Frage, was jemand bereit wäre zu wählen, sondern die moralische Frage, welche Wahl wirklich vertretbar ist. Aber oft bilden wir unsere moralischen Überzeugungen darüber, welche Entscheidungen moralisch zulässig sind, indem wir eine solche Wahl von innen heraus durchdenken. ↩︎

  12. Siehe auch Kapitel 3: Common Objections to Giving, in Singer, P. (2009). The Life You Can Save↩︎

  13. Für eine konkurrierende Sichtweise siehe Kamm, F.M. (1999). Famine Ethics: The Problem of Distance in Morality and Singer’s Ethical Theory, in Singer and His Critics, hrsg. von Dale Jamieson. Oxford: Blackwell: 174–203. ↩︎

  14. Für eine konkurrierende Sichtweise, die normale empathische Reaktionen zur Bestimmung dessen, was richtig ist, heranzieht, siehe Slote, M. (2007). Famine, Affluence, and Virtue, in Working Virtue: Virtue Ethics and Contemporary Moral Problems, hrsg. von Rebecca L. Walker und Philip J. Ivanhoe, Oxford: Clarendon Press: 279-296. ↩︎

  15. Chappell, R.Y. & Yetter-Chappell, H. (2016). Virtue and Salience. Australasian Journal of Philosophy, 94(3): 449–463, p.453. ↩︎

  16. Timmerman, T. (2015). Sometimes there is nothing wrong with letting a child drown. Analysis, 75(2): 204–212. ↩︎

  17. Vor allem Singers strengerer Grundsatz des vergleichbaren Opfers könnte diese Opfer verlangen, wenn keiner der persönlichen Verluste in seiner Bedeutung mit den zusätzlich geretteten Leben vergleichbar wäre. Singer selbst vertritt den utilitaristischen Gedanken, dass wir (im Prinzip) bis zum Grenznutzen spenden sollten, das heißt bis zu dem Punkt, an dem die Kosten, die uns entstehen, wenn wir mehr geben, den Gewinn für andere ausgleichen oder überwiegen. Aber Nicht-Utilitaristen könnten natürlich eine andere Auffassung davon haben, was als vergleichbare moralische Bedeutung gilt. Und das schwächere Rettungsprinzip (P4), auf das sich unser Haupttext konzentriert, ist sicherlich weniger anspruchsvoll. ↩︎

  18. Diese Interpretation bringt Singers Rettungsprinzip sehr viel näher an Millers Prinzip der Sympathie, demzufolge gilt: „Die zugrunde liegende Disposition, auf die Bedürftigkeit als solche zu reagieren, sollte so anspruchsvoll sein, dass ein Spenden, das eine größere zugrundeliegende Besorgnis ausdrücken würde, ein erhebliches Risiko der Verschlechterung des eigenen Lebens mit sich bringen würde, wenn man alle weiteren Pflichten erfüllt; es muss nicht anspruchsvoller als das sein.“ Miller, R. (2004). Beneficence, Duty and Distance. Philosophy and Public Affairs, 32(4): 357–383, p. 359. ↩︎

  19. Sterri, A.B. & Moen, O.M. (2021). The ethics of emergencies. Philosophical Studies, 178 (8): 2621–2634. ↩︎