Der Gleichheits-Einwand
Einige argumentieren, dass der Utilitarismus mit dem Ideal der Gleichheit in Konflikt steht. Nehmen wir zum Beispiel an, wir könnten zwischen zwei möglichen Verteilungen von Wohlergehen wählen: Gleichheit und Ungleichheit: Bei Gleichheit haben 1.000 Menschen ein Wohlergehen von 45, während bei Ungleichheit 500 Menschen ein Wohlergehen von 80 und weitere 500 Menschen ein Wohlergehen von 20 haben.
Im Sinne des Utilitarismus bestimmt nur die Gesamtsumme des Wohlergehens die Güte eines Ergebnisses: Die Verteilung von Wohlergehen zwischen Menschen spielt keine Rolle. Da die Gesamtsumme des Wohlergehens bei Ungleichheit größer ist als bei Gleichheit, ist das ungleiche Ergebnis dem Utilitarismus nach vorzuziehen.
Einige Philosophen widersprechen der utilitaristischen Sichtweise in Bezug auf diese Wahl und behaupten, dass die gleichmäßige Verteilung von Wohlergehen ein Grund ist, dieses Ergebnis zu wählen. Nach dieser Auffassung kommt es nicht nur auf die Gesamtsumme von Wohlergehen an, sondern auch auf die Gleichheit in der Verteilung. Eine gleichmäßigere Verteilung, so die Behauptung, ist ein wichtiger moralischer Faktor, die der Utilitarist übersehe.
Befürworter des Utilitarismus können auf diesen Einwand auf vier Arten reagieren. Wir werden diese der Reihe nach durchgehen.
Die Intuition unterbringen
Die erste Antwort auf diesen Einwand ist der Hinweis darauf, dass Utilitaristen anerkennen, dass Gleichheit ein äußerst wichtiges Leitkonzept für unsere tägliche Entscheidungsfindung ist. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Utilitaristen Gleichheit wegen ihres instrumentellen Nutzens schätzen und nicht, weil sie an sich wichtig ist.
Utilitaristen legen großen Wert auf Gleichheit, weil die meisten Güter einen abnehmenden Grenznutzen aufweisen. Das heißt, je mehr eine Person bereits von einem bestimmten Gut hat, wie beispielsweise Geld oder schöne Kleidung, desto weniger profitiert sie davon, noch mehr davon zu haben. Dies stellt einen starken instrumentellen Grund für Utilitaristen dar, sich bei der Verteilung von Gütern um Gleichheit zu bemühen. Der abnehmende Grenznutzen von Gütern impliziert, dass wir das Gesamtwohlergehen oft dadurch steigern können, dass wir von den Besitzenden zu den Habenichtsen umverteilen. Außerdem kann eine übermäßige Ungleichheit zwischen Menschen zu sozialen Konflikten führen und sich langfristig negativ auf Gesellschaften auswirken. Dies ist ein weiterer Grund dafür, eine gleichmäßigere Verteilung von Wohlstand unter Menschen zu bevorzugen.
In der Praxis setzen viele Utilitaristen ihre Zeit und ihr Geld ein, um das Leben der weltweit am stärksten benachteiligten Gruppen zu verbessern, und versuchen so, eine gerechtere Welt für alle zu schaffen.
Die Intuition entkräften
Eine zweite Antwort auf den Einwand ist das Argument, dass wir, da Gleichheit instrumentell gut ist, vielleicht zu der Annahme verleitet werden, sie sei an und für sich gut. Eine Utilitaristin könnte argumentieren, dass diese moralischen Konzepte so wertvoll für die Gesellschaft sind, dass wir starke charakterliche Dispositionen und soziale Normen kultivieren sollten, um sie zu unterstützen, zu schützen und zu fördern. Daher kann unsere Intuition gegen bestimmte ungerechte Ergebnisse einfach daraus resultieren, dass wir uns eine allgemeine moralische Norm zugunsten der Gleichheit zu eigen gemacht haben. Während unsere Intuitionen zugunsten gerechter Ergebnisse im Allgemeinen das Wohlergehen steigern, versagen sie, wenn das beste erreichbare Ergebnis ein ungleiches, ungerechtes ist.
Darüber hinaus könnte eine Utilitaristin argumentieren, dass unsere Intuitionen bei der Wahl zwischen Gleichheit und Ungleichheit unzuverlässig sein könnten, da wir es nicht gewohnt sind, Ergebnisse direkt mit dem Maße des Wohlergehens der daran beteiligten Personen zu vergleichen. Der Moralpsychologe Joshua Greene argumentiert, dass es Menschen schwer fällt, quantitativ über Wohlergehen nachzudenken, da sie Wohlergehen mit physischen Gütern verwechseln. Greene schreibt:
Wir sind es gewohnt, Dinge zu quantifizieren, Dinge in der Welt oder Merkmale von Dingen in der Welt: Wie viele Äpfel? Wie viel Wasser?… Wie viel Geld? Aber wir quantifizieren normalerweise nicht die Qualität unserer Erfahrungen. Wenn wir uns also mögliche Verteilungen von [Wohlergehen] vorstellen… ist es sehr schwer, nicht an Verteilungen von Dingen zu denken, statt an Verteilungen von Erfahrungsqualität.1
Diese von Greene beschriebene Verwirrung kann unsere Intuition bei der Wahl zwischen Gleichheit und Ungleichheit in die Irre führen, weil wir intuitiv daran gewöhnt sind, dass Güter einen abnehmenden Grenznutzen haben. Wenn die Zahlen in der hypothetischen Wahl zwischen Gleichheit und Ungleichheit das Level an Gütern und nicht an Wohlergehen darstellen würden, würde ein Utilitarist das Ergebnis mit der gleichen Verteilung wählen. Es wäre jedoch ein Fehler, dieses Denken beim Vergleich von Verteilungen von Wohlergehen anzuwenden, da Wohlergehen keinen abnehmenden Grenznutzen aufweist. Definitionsgemäß ist eine bestimmte Einheit Wohlergehen für die Person, der es zukommt, gleich wertvoll, unabhängig davon, wie gut es ihr bereits geht. Dies müssen wir also beim Fällen von auf unserer Intuition beruhenden Urteilen berücksichtigen.
Wenn wir das ursprüngliche Beispiel in Geld ausdrücken und das ökonomische Standardmaß des abnehmenden Grenzertrags von Geld anwenden,2 dann sollten wir die Wahl zwischen Gleichheit und Ungleichheit wie folgt darstellen: Bei Gleichheit erhalten 1.000 Personen 13.500 Dollar, während bei Ungleichheit 500 Personen 10.000 Dollar und 500 Personen 50.000 Dollar erhalten.
Wir sind der Meinung, dass es, so präsentiert, nicht mehr intuitiv offensichtlich ist, dass die utilitaristische Entscheidung, Ungleichheit gegenüber Gleichheit zu bevorzugen, die falsche ist. Jeder würde zustimmen, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit durch ein höheres Gesamtwohlergehen gerechtfertigt werden kann; wie genau dieser Zielkonflikt auszuloten ist, ist schwierig, und es ist nicht offensichtlich, dass der Utilitarismus die falsche Wahl trifft.
Kritik an den Alternativen
Die dritte mögliche Antwort besteht darin, die verfügbaren Alternativen zum Utilitarismus zu kritisieren, um zu zeigen, dass sie noch kontraintuitivere Implikationen haben. Zum Beispiel unterliegt der Egalitarismus einem Einwand von der Gleichmacherei durch das Schlechterstellen mancher, der besagt, dass er es in Kauf nimmt, den Bessergestellten zu schaden (ohne irgendjemandem zu nützen), da dies einen positiven Effekt auf die Gleichheit hat.3 Wenn man nicht glaubt, dass eine solche Angleichung nach unten etwas Gutes hat, dann unterstützt das die utilitaristische Ansicht, dass Gleichheit nur instrumentell wertvoll ist: wertvoll, wenn und weil sie dazu dient, das Gesamtwohlergehen zu fördern.4
Wir können auch zeigen, dass Alternativen zur utilitaristischen Verteilung von Wohlergehen einen Grundsatz verletzen, der als ex ante Pareto bezeichnet wird: Wenn bei einer Wahl zwischen zwei Glücksspielen jeder rationalerweise Glücksspiel A gegenüber Glücksspiel B vorziehen würde, dann ist Glücksspiel A besser als Glücksspiel B.
Um dies zu veranschaulichen, nehmen wir an, dass wir zwischen zwei Verteilungen von Wohlergehen wählen können: einem sicheren Ergebnis und einem riskanten Spiel: Bei dem sicheren Ergebnis sind sowohl Abel als auch Beth 45 Einheiten Wohlergehen garantiert. Beim riskanten Spiel erfolgt ein fairer Münzwurf. Bei Kopf erhält Abel 80 Einheiten Wohlergehen, während Beth nur 20 Einheiten erhält. Bei Zahl erhält Beth die 80 Einheiten Wohlergehen und Abel die 20 Einheiten.
Wir können davon ausgehen, dass sowohl Abel als auch Beth aus rationalen Gründen das riskante Spiel dem sicheren Ergebnis vorziehen würden. Sie tun dies, weil ihr erwartetes Wohlergehen beim riskanten Spiel 50 (= (80+20) x 50 %) beträgt, was höher ist als das erwartete Wohlergehen bei einem sicheren Ergebnis von 45.5 Wenn wir also ex ante Pareto folgen, sollten wir das riskante Spiel gegenüber dem sicheren Ergebnis vorziehen. Letzteres führt jedoch zu einem ungleichen Ergebnis. Diejenigen, die Gleichheit gegenüber Ungleichheit bevorzugt haben, müssen daher auch das sichere Ergebnis gegenüber dem riskanten Spiel bevorzugen. Sie müssen dies tun, auch wenn dies gegen die Interessen aller Beteiligten verstößt.
Dieser Einwand wurde von dem Wirtschaftswissenschaftler John Harsanyi formell entwickelt, der ihn in seinem utilitaristischen Aggregationstheorem bewies.6
Tolerieren der Intuition
Schließlich können Befürworter des Utilitarismus wieder einmal „in den sauren Apfel beißen“ und einfach akzeptieren, dass der Utilitarismus manchmal mit unseren Intuitionen über Gleichheit in Konflikt steht. Zu diesen Konflikten kommt es, weil die vom Utilitarismus bevorzugten Ergebnisse diejenigen mit dem größtmöglichen Gesamtwohlergehen sind, was nicht immer mit den egalitärsten Ergebnissen übereinstimmt. Utilitaristen werden darauf bestehen, dass es für Menschen insgesamt besser ist, wenn es ihnen besser geht (selbst wenn diese Vorteile nicht gleichmäßig verteilt sind), als wenn allen gleichmäßig ein geringeres Level an Wohlergehen vergönnt ist.
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Ressourcen und weiterführende Lektüre
- Roger Crisp (2003). Equality, Priority, and Compassion. Ethics, 113(4): 745–763.
- Toby Ord (2015). A New Counterexample to Prioritarianism. Utilitas, 27(3): 298–302.
- Derek Parfit (1997). Equality and Priority. Ratio, 10(3): 202–221.
- Larry Temkin (1993). Inequality. New York: Oxford University Press.
- Larry Temkin (2003). Equality, Priority or What?. Economics and Philosophy, 19(1): 61–87.
Greene, J. (2013). Moral Tribes: Emotion, Reason, and the Gap Between Us and Them. New York: The Penguin Press. Kapitel 10. ↩︎
Vgl. Drupp et al. (2018). Discounting Disentangled. American Economic Journal: Economic Policy. 10(4): 109–134. ↩︎
Parfit, D. (1997). Equality and Priority. Ratio, 10(3): 202–221. ↩︎
Dies lässt jedoch die Wahl zwischen dem Prioritarismus, der den Interessen der am schlechtesten Gestellten mehr Gewicht verleiht, und der gleichberechtigten Berücksichtigung von Interessen durch den Utilitarismus offen. ↩︎
In der Tat wird das Wohlergehen angesichts von Ungewissheit in der Regel anhand rationaler Entscheidungen definiert. In diesem Sinne bedeutet ein Ergebnis von 100 Wohlergehen, dass man beispielsweise zwischen diesem Ergebnis und einer 50/50-Chance auf 200 Wohlergehen oder 0 Wohlergehen gleichgültig sein sollte. ↩︎
Vgl. Harsanyi, J. C. (1955). Cardinal welfare, individualistic ethics, and interpersonal comparisons of utility. The Journal of Political Economy, pp. 309–321. ↩︎